Anh Linh Waisenhaus
Bevor ich morgen meinen verfrühten Urlaub antreten werde,
soll ich heute noch insgesamt drei Klassen im Anh Linh Waisenhaus unterrichten.
Ich unterrichte am Morgen zusammen mit Yoga, mit dem ich mir zu diesem Zweck
gestern Nacht noch ein paar Unterrichtsinhalte überlegt hatte. Der Weg zum
Waisenhaus ist ein etwas weiterer und wir brauchen bis zur Pforte des Hofes mit
Bus und Umsteigen etwa eine Stunde. Obwohl ich bereits am Freitag hier
unterrichtet hatte, ist es heute Morgen wieder ganz anders. Da die
Morgen-Klassen für die Kinder verpflichtend sind, tragen alle ihre Uniformen
und werden von ihren Lehrern beäugt, die allerdings nicht mehr als anwesend
sind. Als wir den Unterricht eröffnen sollen, erfahre ich zum ersten Mal von
der Existenz der Lehrbücher. Alle Vorbereitung ist natürlich umsonst, wenn ich
nicht hellsehen kann, dass die 8-Uhr-Klasse gerade die Familienmitglieder lernt
und sich die 10-Uhr-Klasse mit dem Wetter beschäftigt. Aber das ist natürlich
wieder unser Problem und ich sehe mich stammelnd vor den Kindern stehen und
diese einige Sätze nachsprechen lassen.
Die Zeit geht zum Glück schnell vorbei und als wir der nächsten Klasse
das Wetter beibringen sollen, bin ich besser vorbereitet. Wir malen ein paar
Wolken mal mit Regen, mal ohne, mal pustend, eine lächelnde Sonne und der Laden
läuft. Als die Kinder dann noch die entsprechenden Wetterlagen zeichnen dürfen,
ist das Spiel entschieden.
Nach Ende des Unterrichtes
und meiner traditionellen Ansprache zur katastrophalen
Informationspolitik nehme ich den Bus zurück zu meinem Zimmer, von dem ich
Sandhya abhole, die sich zumindest den Nachmittagsunterricht nicht entgehen
lassen möchte. Wir fahren wieder zurück in den abgelegeneren Distrikt in dem
sich das Waisenhaus befindet und treffen auf dem letzten Stück, welches man zu
Fuß bewältigen muss auf meine Kollegin aus Deutschland. Wir sind etwas früh
dran und essen, während wir auf dem Hof, auf das Eintreffen der lokalen Helfer
warten unser Reis-Frühstück, das wir uns vor der Busfahrt einpacken haben
lassen. Bevor es mit dem Unterricht dann letztendlich los geht, werden wir von
den Kindern noch in ihr Versteck-Spiel integriert.
Meine japanische Kollegin hat sich glücklicherweise
akribisch vorbereitet, sodass wir nur ihren Anweisungen folgen müssen. Wir
singen mit den Kindern ein typisches Kinderlied, dass es wohl in allen Ländern
der Welt gibt. Ein kleines Mädchen schließe ich direkt in mein Herz, das
permanent verschämt meine Aufmerksamkeit sucht und an mir hängt. In der Pause
sind die Kinder dann vor allem mit unserer Kamera beschäftigt. Sie lassen sich
freudig knipsen und ein Mädchen traut sich auch einmal selbst abzudrücken. Die
zweite Unterrichtshälfte verbringen wir draußen auf dem Hof. Die Kleinen sollen
uns Verben nennen, die wir pantomimisch darzustellen versuchen und im Anschluss
spielen wir ein Laufspiel meiner japanischen Kollegin, dass die Kinder im
Gegensatz zu mir, der nur planlos umherirrt, zu verstehen scheinen und fröhlich
stimmt. Ein Mädchen ist jedoch den
ganzen Tag still und scheint nicht in der Lage zu sein, ihre Gesichtsmuskeln zu
einem Lachen zu bewegen. Ich versuche ihr ein solches zu entlocken, habe aber
keine Chance und erfahre, dass das wohl immer so sei. Mein vietnamesischer
Kollege sagt mir, dass das einfach ihr Gesicht wäre, sie hat kein anderes. Sie
scheint wie die Protagonistin einer dieser Hollywoodschnulzen die von einer außergewöhnlichen
Freundschaft zwischen einem Erwachsenen und einem, vom Leben gezeichneten, Kind
erzählt. Das hier ist allerdings Saigon, nicht Hollywood und ich habe auch
keine dieser lebensverändernden Phrasen parat, die ihr, unterlegt mit
pathetischer Musik, ihren Schmerz nehmen und Zuversicht geben.
Bevor wir den Heimweg antreten, zeigt mir Sandhya noch den
Nähraum, den sie zuvor entdeckt hatte. Die Lehrerin erklärt uns, dass die
Kinder von überall hierher kommen um zu lernen, wie sie Geld verdienen können.
Mit diesem Wissen arbeiten sie dann später in den Textilfabriken der großen
Hersteller und nähen dann vielleicht unsere lächerlich teuren Marken-Klamotten.
Ein komisches Gefühl. Doch diese Kinder sind froh und glücklich, dass sie sich
und ihren Familien eine Lebensgrundlage schaffen und erhalten können. Und die
Textilien, die sie hier nähen, sind wirklich von außergewöhnlicher Qualität.
Die ganze Kinderarbeitsdebatte ist eine schwierige und sicherlich nicht mit
unseren westlichen Maßstäben zu diskutieren.
Am Abend sitzen wir wieder auf dem Dach des Hotel Rex
und lassen uns von der philippinischen Band und der englischen Reisegruppe
unterhalten, die, direkt vor der Bühne postiert, sehr zu meiner Freude, keine
Peinlichkeit auslässt. Wieder zu Hause wird dann noch schnell gepackt, damit
wir morgen unsere Busreise nach Phnom Penh antreten können, die wir noch am
Mittag in einem Reisebüro im Backpacker-Distrikt gebucht hatten.