Heute darf ich endlich etwas tun. Mit
meinem geliehenen Helm suche ich die Bushalte an der ich die Linie 19
Richtung Universität nehme. Eingestiegen wird in den fahrenden Bus,
gehalten wird nicht. Ich setze mich hinter den Busfahrer und bezahle
beim Kontrolleur 4000 Dong (etwa 15 Cent). Der Busfahrer hat sich
seinen Arbeitsplatz mit einem Buddhistischen Schrein verschönert.
Ich zeige ihm einen Papierfetzen, auf den ich die Adresse geschrieben
habe, wenn ich irgendetwas sage, versteht es sowieso keiner. In einem
Restaurant ist es gut zu wissen, dass „ga“ Hühnchen heißt. Je
nach Betonung hat dieses „ga“ jedoch 8 Bedeutungen, und ich
möchte in einem Restaurant höchstens ein Huhn, aber weder einer
„Ehe mit seiner/ihrer Tochter einwilligen“, noch den Kellner
„verführen“ (tatsächlich zwei weitere Varianten von „ga“).
Ich verlasse mich also auf meine Gestik. Klappt zwar auch nicht, aber
ich muss mich nicht auch noch um eine Hochzeit kümmern, die mir hier
übrigens besonders aufwendig erscheinen.
An der Universität angekommen, suche
ich vergeblich denjenigen der mich zum Waisenhaus bringen soll. Ich
setze mich zwischen den hunderten vietnamesischen Studenten auf die
viel zu kleinen Bänkchen unter deren Tischen meine Beine keinen
Platz finden und warte. Nach zwanzig Minuten höre ich dann endlich
das Hupen seines Rollers. Ich springe auf und es geht los. Ich ärgere
mich immer, dass ich vom Roller aus keine Fotos machen kann. Der
Blickwinkel ist einmalig, aber ich brauche eigentlich sowieso mehr
als zwei Hände, um mich festzuhalten. Es ist beeindruckend, mit
welcher Sicherheit diese Menschen auf den Rollern unterwegs sind. Es
scheint oft, als würden sie mit diesen verschmelzen. An uns vorbei
rasen zwei Männer; zwischen ihnen eine riesige Glasscheibe. In den
Stummfilmen der 20er ein Gag, hier Alltag. Am Straßenrand liegen die
Vietnamesen auf ihren Rollern und schlafen; ein Kunststück.
Wir überqueren den Saigon River und
entfernen uns immer weiter aus der Kernstadt. Wir fahren ein ganzes
Stück an diesem breiten Fluss entlang, der eine große Faszination
auf mich ausübt. Am anderen Ufer liegt in der Ferne der boomende
Kern des Distrikt 1. Moderne Wolkenkratzer, luxuriöse Hotels,
schillernde Bürogebäude und viele Kräne die mehr versprechen.
Wir verlassen die Straße und fahren in
einer engen Gasse ohne Straßenbelag weiter. Bald stoppen wir vor
einem Gittertor. „Here we are!“. Ich bedanke mich für die Fahrt
und werde der Heimleiterin mit ein paar kurzen Worten vorgestellt.
Auf dem Hof spielen ein paar Kinder im Staub der Großstadt. Ich
werde ins Haus und dann eine Treppe hinauf geführt. Im Treppenhaus
sind ein paar Waschbecken, an denen sich einige Kinder waschen und
eine kleine Toilette unter der Treppe im Dunkeln. Ich betrete den
Klassenraum im ersten Stock, in dem der Unterricht bereits gestartet
hat, da wir etwas spät waren. Die Kinder jubeln kurz, als sie mich
sehen; ich setze mich in die letzte Reihe; es ist wieder ruhig. Meine
Kolleginnen aus Deutschland und Japan malen Kleidungsstücke an die
Tafel und schreiben die entsprechenden Wörter dazu. Manche Kinder
machen begeistert mit und hüpfen auf den Tischen, andere sitzen
apathisch an ihren Plätzen und kritzeln bestenfalls ein wenig
abwesend. Es ist sehr schwierig mit den Kleinen umzugehen. Die einen
bleiben nicht sitzen springen und schreien wild umher, die anderen
sind ganz woanders. Ich unterhalte mich mit dem AIESECer der mich
hergefahren (er ist der Projektleiter des Unterrichtsstoffes, den wir
jedoch weitgehend selbst erstellen sollen) hat über die Bedingungen
und die Schicksale der Kinder. Morgens unterrichten wir etwa 40
Kinder. Mittags ist der Unterricht freiwillig, es sind etwa 20 Kinder
im Klassenraum, davon ein Junge. Kinder sind überall gleich. Von den
40-50 Kindern die sich hier täglich aufhalten, schlafen nur 20 hier,
sie sind Waisen. Die anderen sind Kinder von verurteilten
Drogenhändlern, die der Strick bald zu Waisen machen wird. Zur Vertiefung der erlernten Vokabel
spielen meine Kolleginnen mit den Kindern „Galgenmännchen“. Ich verbiete
mir nicht, in dieser Tragik eine gewisse Komik zu finden. Ich heuchle
keine Betroffenheit. Die Szenerie ist zu unwirklich.
Nach etwa einer Stunde und einer Pause,
die nach dem Läuten der Glocke frenetisch gefeiert wird, darf ich
ins Geschehen eingreifen. Durch ein Puzzle in Form eines Gesichts,
welches wir natürlich vorher basteln, sollen die Kinder die
Gesichtsorgane und die englischen Begriffe für verschiedene
Ausdrücke kennenlernen. Ein traditionelles japanisches Spiel. Die
Kinder müssen das Gesicht mit verbundenen Augen zusammenpuzzlen und
sagen, welche Empfindung es hat. In diesem Fall „happy“ oder
„sad“. „Nachdenklich“ konnte ich nicht basteln.
Zum Abschluss sollen wir den Kindern
etwas über Deutschland erzählen, was über Bilder geschieht, da sie
eben kein Englisch verstehen. Unsere vietnamesischen Kollegen sind
aber bemüht zu übersetzen. Ein Bild von Phillip Rösler und dem
verbundenen Schicksal, kann sie nicht begeistern, dafür natürlich
ein Portrait unserer Nationalmannschaft. Als ich gefragt werde, ob
ich Manuel Neuer sei, muss ich die Kinder enttäuschen und das Raunen
verstummt.
Mein erster Tag ist vorbei, wir fahren
zurück ins Zentrum und suchen uns ein Touri-Restaurant im
Backpacker-Distrikt. Ich bin bereit mich für ein normales Essen über
den Tisch ziehen zu lassen. Ich kann kein trockenes Blut mehr sehen.
Meine Gnocchi schwimmen zwar ganz ähnlich in der
Instant-Gorgonzolasoße, ich esse sie jedoch ohne jeglichen Drang
mich zu übergeben. Zwei meiner vietnamesischen Kolleginnen haben uns
etwas seltsames von einem der vielen Straßenständen mitgebracht,
dass sich als weiße Bohnen in Kokoscream entpuppt und nach dem
vierten Löffel richtig gut schmeckt. An den Nebentischen tun mir die
zahlreichen älteren Europäer Leid, die gerade im Begriff sind, sich
von einigen jungen Vietnamesinnen sowohl monetär als auch - nicht zu
Letzt - emotional ausbeuten zu lassen. Ich steige in den Bus und
fahre nach Hause.
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